Der grüne Federball

Es war Sonntag. Für Silas war es der schlimmste Tag der Woche, denn Sonntag war Wandertag.

Silas hatte überhaupt kein Bock. Er verstand nicht, was am Wandern so toll sein sollte. Stundenlang setzte man einen Fuß vor den anderen. Was für tolle Dinge man stattdessen machen konnte: Fernsehen, Zocken, mit Freunden abhängen, auf dem Sofa fläzen, aber nein…er konnte die schrillen Worte seiner Eltern hören: “Sonntag ist Familientag! Und wir gehen gerne wandern!“ 

Pffff! Wie oft Silas diesen Spruch hörte. Wenn er jedes Mal nur eine Cent bekommen würde, wenn seine Eltern den Blödsinn von sich gaben, wäre er ein steinreicher Junge. Dann müsste er nie wieder wandern gehen oder auch nur irgendwas tun, was seine Eltern von ihm wollten. Er konnte es nicht abwarten entweder reich oder Erwachsen zu sein.

Doch er war an diesem Sonntag weder das eine, noch das andere. Also blieb ihm nichts anderes übrig als den lieben langen Tag einen Fuß vor den anderen zu setzen. 

Wie konnten die Erwachsenen nur Spaß daran haben, durch die Gegend zu spazieren. Es war immer nur der selbe Einheitsbrei. Grüner und brauner Einheitsbrei. Wie sie sich über jedes Gezwitscher freuten. Und wen juckte es, was für Bäume oder Sträucher am Wegesrand standen. Wozu sollte man sowas wissen? 

Silas tat das, was er immer auf diesen Wanderungen tat: Steine durch die Gegend kicken. Wenn sie wieder zuhause waren, dann konnte er endlich…Silas blieb wie angewurzelt stehen.

Was war das?

Da! Schon wieder! Das Gebüsch, in das er eben einen Stein gekickt hatte, raschelte. Und…ja! Da fiepte jemand!

„Jetzt bin ich schon genauso bekloppt, wie meine Eltern!“, flüsterte er sich zu, als er langsam auf den raschelten Busch zuging. Langsam schob er die Zweige auseinander. 

Silas brauchte einen Moment, bis er entdeckt, wer da fiepte. Er war genauso hellgrün, wie der Busch, indem er hockte. Doch was war er? Er sah aus wie ein gefiederter Ball. War das…ein Vogel?

Der grüne Federball fiepte erneut. Jetzt konnte Silas auch den Schnabel sehen. Der Federball drehte sein Köpfchen und blickte Silas mit schwarzen, glasigen Knopfaugen an.

Noch nie in seinem Leben hatte Silas so einen Vogel gesehen. Ja, er hätte sich nicht mal im Traum vorstellen können, dass es so ein Vogel überhaupt gab. Er war kugelrund, wie ein Ball, hatte grasgrüne Federn, einen gebogenen Schnabel und winzige Knopfaugen, die in einem fedrigen Kreis lagen. „Vielleicht ein Mischwesen aus Eule und Papagei?“, dachte sich Silas. 

„Was ist mit dir?“, flüsterte Silas ihm zu.
Der Federball krächzte leise zurück.
„Bist du verletzt?“

Silas schaute sich den Vogel genauer an. Jetzt erst sah er, dass einer der Flügel leicht abstand. Es war schwer zu erkennen unter den aufgeplusterten Federn.
„Bleib hier grüner Federball! Ich hol Hilfe.“

Vorsichtig schob Silas die kleinen Zweige übereinander und schleichte rückwärts. Dann schlug er einen Haken und spurtete zu seinen Eltern.
Es dauerte nicht lange, bis er sie eingeholt hatte. Sie waren beide im Gespräch vertieft und betrachteten eine Pflanze, die am Wegesrand stand.

„Schnell!“, keuchte Silas. „Da hinten im Gebüsch sitzt ein verletzter Vogel!“

Zum Glück waren sie noch nicht weit von Zuhause weg. Während Silas das Gebüsch bewachten, indem der Vogel hockte, eilte Silas Papa nach Hause, um einen Karton zu holen und Silas Mama versuchte einen Tierarzt zu erreichen. 

Silas redete dem Vogel Mut zu: „Halte gut durch, kleiner Federball. Wir bringen dich zum Tierarzt und kümmern uns um dich. Dir wird’s im Nu wieder besser gehen.“

„Und?“ fragte Silas seine Mama, als sie das Handy wegpackte und sich zu ihm kniete. „Können wir ihn zu einem Tierarzt bringen?“
„Ja. Eine Tierärztin ganz in der Nähe hat Zeit.“

„Siehst du kleiner Federball, dir wird’s ganz bald wieder besser gehen! Hat die Tierärztin gesagt, was für ein Vogel das ist Mama?“

„Nein, leider nicht. Sie meinte, sie müsste ihn sehen, damit sie ihn bestimmen kann.“

Silas betrachtete den Vogel. So ein seltsamen Vogel hatte er noch nie gesehen. Er war rund und sah aus wie ein grün gefiederter Rugbyball mit kleinem Eulenköpfchen und Papageienschnabel. 

Es kam Silas vor, wie eine Ewigkeit, bis sein Papa mit dem Karton zurück war. Der Sonderling wehrte sich nicht, als sie ihn behutsam in ein Handtuch wickelten und in den Karton setzen. 

Den ganzen Weg nach Hause zum Auto und während der Fahrt zur Tierärztin, ließ Silas den Karton keine Sekunde aus den Augen. Silas hatte den grünen Federball ins Herz geschlossen und wollte nicht von seiner Seite weichen, bis er wusste, dass es ihm wieder gut ging.

Die Tierärztin kümmerte sich direkt um sie.

Als sie den Vogel sah, staunte sie: „Wow! Da habt ihr aber einen ganz besonderen Patienten zu mir gebracht. Danke. Ich kümmere mich direkt um das Kerlchen.“

Bevor Silas fragen konnte, was es für ein Vogel war und was ihm fehlte, war sie auch schon mit der Kiste verschwunden. Silas wäre am liebsten mit ihr gegangen. Es war schwer im Wartezimmer zu sitzen und auf ihre Rückkehr zu warten. Vor lauter Aufregung konnte Silas nicht stillsitzen, er lief auf und ab und blickte beim kleinsten Geräusch zur Tür. Zum zweiten Mal an diesem Tag kam es Silas so vor, als würde eine Ewigkeit vergehen. 

Als Silas kurz davor war aus dem Wartezimmer zu stürmen und nach seinem neuen Freund zu rufen, kam die Tierärztin rein.

„Möchtest du deinen Freund besuchen?“

Silas nickte eifrig und folgte mit seinen Eltern der Tierärztin. 

Der grüne Federball wirkte in dem Behandlungsraum mehr als Fehl am Platz. Ein fedriger, grüner Tupfen in einem weißen, grellen Raum. Mit geknicktem Kopf und geschlossenen Augen saß er auf dem Metalltisch in der Mitte des Raums. Wäre Silas unter anderen Umständen hier gewesen, hätte er die ganzen Gerätschaften, wie Zangen, Scheren, Verbandszeug, Stethoskop und vor allem die ganzen Bilder von Katzen, Hunden, Hasen, Pferden, Papageien und allerlei anderer Tiere, die an der Wand hingen, bestaunt.

Aber Silas hatte nur Augen für den aufgeplusterten Federball. Sein Flügel war mit einem blauen Band umwickelt. 

„Wird er wieder gesund?“, fragte er die Tierärztin.

„Ja“, antwortete sie. Silas fiel ein Stein vom Herzen. „Er hatte einen verletzen Flügel.  Ihr habt genau das richtige getan, wenn er noch länger unter dem Gebüsch gesessen hätte, hätte er es wahrscheinlich nicht überstanden. Überall in den Wäldern lauern Gefahren für die seltenen Vögel.“

„Was ist das für ein Vogel? So einen hab’ ich noch nie gesehen.“

„Das ist ein Kakapo“, antwortete die Tierärztin. Silas konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ja, es ist ein lustiger Name“, sagt die Tierärztin und erwiderte Silas Grinsen. „Die Kakapos leben schon sehr lange in Neuseeland, schon bevor der Mensch auf die Insel gekommen ist. Der Vogel hatte früher keine natürlichen Feinde und hat sogar verlernt zu fliegen.“

„Ein Vogel, der verlernt hat zu fliegen?“, fragte Silas. Wenn er den Kakapo aber so betrachtete, konnte er sich auch nicht vorstellen, dass so ein runder und großer Vogel durch die Luft fliegen würde. „Vielleicht war er früher ja mal etwas dünner“, dachte sich Silas. 

„Ja, sie mussten es einfach nicht. Und dann haben sie es mit der Zeit verlernt.“

„Warum ist der Wald für den Kakapo gefährlich?“, fragte Silas.

„Hunde, Katzen, Ratten. Alles Tiere, die mit dem Menschen auf die Insel gekommen sind, können gefährlich für die Vögel werden. Da Kakapos keine Feinde kennen, haben sie auch nie gelernt sich zu verteidigen, sich zu verstecken oder wegzulaufen.“

„Können sie das denn nicht noch lernen? Ich lern’ auch noch immer wieder was neues.“

„Leider dauert so ein instinktives Verhalten länger. Aber er könnte es noch lernen. Leider sind die Kakapos heute vom Aussterben bedroht.“

„Was?“ Silas Augen weiteren sich.

„Aber es gibt Hoffnung“, fuhr die Tierärztin fort. Silas folgte aufmerksam ihren Worten „Überall im Land gibt es Auffangstationen. Wissenschaftlerinnen und Tierschützer haben auch eine kleine Insel gefunden, auf der es keine Feinde für die Kakapos gibt und wo sich die Vögel erholen können“. 

„Können wir unseren Kakapo auch zu so einer Auffangstation bringen, damit er sich erholen kann?“. 

„Ja klar“, antwortet die Tierärztin. „Allerdings sind die ein ganz schönes Stück entfernt. Er sollte erstmal hier bleiben, damit wir ihn etwas aufgepäppelt und beobachten können und er sich erholen kann.“

Das war es nun also, dachte sich Silas. Sie hatten den Vogel hergebracht, er wurde versorgt und nun würden sie getrennte Wege gehen. 

Was für ein schönes Tier sein Federball war. Die klitztekleinen Federn, die sich in Kreisen um seine Augen zogen. Der dicke Schnabel. Der große Kopf. Der runde Körper. Die festen dunkelgrauen Krallen. Das Grün: Grasgrün, Moosgrün, Giftgrün, Gelbgrün, Braungrün und noch unzählige andere Grün, für die Silas keinen Namen hatte. 

Dazwischen lugten immer wieder schwarz-weiß gestreifte Federn hervor. Als wäre ein Zebravogel in einen grünen Farbtopf gefallen. Er würde ihn schrecklich vermissen und hoffte…

„Silas? Hey, hörst du zu?“ Die Stimme seiner Mutter holte ihn aus seinen Gedanken. 

„Was? Gehen wir?“, fragte Silas.

„Noch nicht“, antwortete die Tierärztin und lächelte ihn an. „Ich habe da noch was für dich.“

Sie reichte ihm einen Zettel. Es standen irgendwelche Namen drauf, die Silas noch nie in seinem Leben gehört hatte.

„Was ist das?“, fragte er.

„Das ist eine Liste sämtlicher Pflanzen, Früchte und Samen, die Kakapos gerne essen. Ich habe mit deinen Eltern gesprochen.
Ich brauche jemanden, der mir beim Aufpäppeln und versorgen hilft. Der Futter besorgt, dass er gerne isst und ihm Gesellschaft leistet. Da habe ich an dich gedacht.
Natürlich nur, wenn du willst?“

„Was? Ja! Ja! Ja! Natürlich! Ja ! Ja! Jaaa! Hast du das gehört, grüner Federball! Wir sehen uns ganz schnell schon wieder. Und zwar jeden Tag! Ja! Ja! Jaaaaa!“

Silas war so aufgeregt, er wackelte und zappelte. Am liebsten hätte er den Kakapo geknuddelt und geknutscht. Er hatte einen neuen Freund, einen wunderbaren grünen Federball.

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