Der Regenbogendrache

Sofia war krank. Was es genau für eine Krankheit war, die sie seit einigen Jahren mit sich rumschleppte, konnte ihr bisher kein Arzt sagen. Sofia nannte es ihre „Auf-und-Ab“-Krankheit. An einem Tag konnte sie nicht mal ihren kleinen Finger heben und klebte an ihrem Bett als wäre es magnetisch. Am nächsten Tag konnte sie durch die Gegend hüpfen und mit den Vögeln pfeifen, um sich kurz darauf wieder im Bett zu befinden. Ihr Körper kannte nur noch Vollgas oder Totalschaden.

Im letzten Jahr war es auch eher ein Ab als ein Auf. Sofia ging es immer schlechter. Es gab nur noch wenige Tage an denen sie sich so richtig wohl und gesund fühlte. Die meisten Tage fühlte sie sich erschöpft und schwach. Die Tage an denen sie überhaupt nicht aufstehen konnte, wurden immer mehr.

Sofia wusste ganz genau, dass sie es nicht mehr allzu lange aushalten würde. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr die Kraft ausgehen und ihr Tank nur noch auf Reserve laufen und es gab nichts was sie dagegen tun konnte.

Ihre Eltern sahen das ganz anders. Sie wollten Sofia dazu ermutigen weiterhin in die Schule zu gehen, am alltäglichen Leben teilzunehmen und unermüdlich nach einer Heilung für ihre Krankheit zu suchen. Am Anfang wollte Sofia das auch noch, aber mittlerweile… Sie hatte keine Lust mehr auf Ärzte, auf die sorgenvollen Blicke ihrer Eltern, auf das ewige Warten und Ausharren, auf die Versprechungen, Weissagungen und gut gemeinten Ratschlägen. Dass sie in die Schule gehen sollte, verstand sie schon dreimal nicht. 

Wenn überhaupt schaffte sie es alle zwei Wochen mal für zwei oder drei Tage in der Schule sein zu können. Manchmal verging sogar ein ganzer Monat, in dem sie überhaupt nicht da war oder sie konnte nur für ein paar Stunden kommen und musste dann aus dem Unterricht abgeholt werden. Für Sofia war es die Hölle. Sie kam nirgends mehr mit, ihre Mitschülerinnen und Mitschüler tuschelten über sie und von den Lehrkräften erntete sie mitleidige und besorgte Blicke. Es war schlicht und ergreifend zum Kotzen, schöner konnte man es nicht ausdrücken. 

Wenn Sofia ihren Eltern sagte, dass sie keine Lust mehr hatte in die Schule zu gehen, erwiderten sie nur „aber du musst doch am normalen Leben teilnehmen“, „du darfst doch nicht aufgeben“, „du musst versuchen dein Leben weiter zu leben, wer weiß was passiert.“ Ja, wer wusste schon was passiert, aber in der Schule rumhängen und sich vorkommen, wie eine dumme Außerirdische, zählte nicht zum Leben dazu, fand Sofia. Sie würde die Abschlussprüfungen sowieso nicht schaffen, sie verstand kein Wort mehr davon, was ihre Mathelehrerin oder ihr Biolehrer so von sich gaben, sie kam einfach nicht mehr mit. Was und vor allem wem nütze es denn irgendwas, dass sie noch hinging. Wenn ihre Krankheit wieder besser werden würde oder wenn es irgendwann eine Therapie geben würde, die ihre Krankheit heilen könnte, dann könnte sie ja immer noch zurück in die Schule gehen und ihren Abschluss machen und am „normalen“ Leben teilnehmen. Aber jetzt war das mehr als sinnlos und Zeitverschwendung. Außerdem müsste man erst einmal herausfinden, was sie überhaupt für eine Krankheit hatte, um eine Heilung dafür zu finden. Davon schienen aber alle Ärztinnen, Heiler und Quacksalber meilenweit entfernt zu sein. Sofia konnte einzig und allein ihre Symptome runterbeten: kratziger Husten, Ohrensirren, Kopfschmerzen, Atemnot, Bauchkrämpfe, Schwächeanfälle, Schwindel, ein Kribbeln in den Fingern, ein Ziepen und Zucken, als ob jemand ihr Stromschläge verpassen würde und ein drückendes Gefühl auf ihren ganzen Körper, als ob sich ein Elefant auf ihr abgelegt hätte.

Auch wenn es Sofia nicht gut ging und ihre Krankheit sie ans Bett fesselte, waren die Wochenende immer eine Erholung. Ihre Eltern brachten sie jedes Wochenende aufs Land zu ihren Großeltern. Diese hatten am Waldrand eine kleine Hütte. Rundherum gab es Wiesen , Wald und eine kleine Weide, auf dem ihre Herde graste, die aus Alpakas, Lamas, Eseln, Ziegen und einem kleinen dicken scheckigen Pony bestand. Außerdem gackerten auf dem Hof noch einige Hühner umher und ein stattlicher Hahn, der für Ordnung sorgte. Alles Tiere, die sie von irgendwelchen Leuten geschenkt bekommen, gewonnen oder gerettet hatten. So ganz konnte Sofia das ihren Großeltern nicht glauben, aber das war auch nicht wichtig. Wichtig waren nur die Tiere und dass sie da waren. Sie schauten Sofia weder mitleidig an und schrieben ihr vor, wie sie die letzte Zeit ihres Lebens zu leben hatte. Mal schnupperten sie an ihr, wenn sie an ihr vorbei kamen, ließen Geräusche los und holten sich was zu Essen ab. Sie behandelten sie, als ob sie genauso wäre, wie jeder andere auch und das gefiel Sofia so gut an ihnen. 

Sofias Großeltern machten auch kein Drama um ihre Krankheit. Sie schafften es irgendwie, auch wenn sie sich große Sorgen um ihre Enkelin machten, sie normal zu behandeln. Wenn Sofia ans Bett gefesselt war und nicht aufstehen konnte, spielte sich auch das Leben der Großeltern um ihr Bett ab. Ihre Oma karrte ihre Wollsachen heran, wickelte Fäden auf, häkelte und strickte Mützen, Schals, Socken und Pullis und erzählte ihr Geschichten. Ihr Opa setzte sich jedes Mal zu Sofia aufs Bett, wenn er etwas las oder sich etwas zum Essen gemacht hatte. Einmal führte er alle Tiere in Sofias Zimmer und erklärte ihr, dass sie von nun an im Stall leben müsste. Sofia fand es großartig. 

Wenn Sofia fit genug war, trugen ihre Großeltern sie auf die Weide und bauten ihr ein kleines Picknick-Lager auf, indem sie alles hatte was sie brauchte, von guten Büchern bis zu ihren Medikamenten. 

Sofia erzählte ihren Großeltern nicht, dass sie das Leben bei ihren Eltern in der kleinen Wohnung mitten in der Stadt nicht mehr mochte, dass sie nicht mehr in die Schule wollte und auch keine Ärzte mehr sehen konnte. Sie wollte ihren Eltern nicht weh tun. Sofia stellte es sich schlimm genug vor, eine Tochter zu haben, die todkrank war, da brauchte man nicht auch noch eine Tochter, die nicht mehr Zuhause leben wollte.

Aber Sofia erzählte es den Tieren. Die Tiere hörten ihr zu und meckerten und wieherten ab und zu zustimmend und nachfragend. Eines Tages allerdings bekam Sofias Großvater eines der Gespräche zwischen Sofia und dem dicken kleinen gefleckten Pony Edu mit. 

Sofia erzählte Edu, wie sehr sie es hasste in die Schule gehen zu müssen und dass keiner so richtig auf sie hören wollte. Sie wüsste ganz genau, dass es mit ihr zu Ende ging und wollte ihre Zeit lieber hier mit Edu und seinen Freunden verbringen als mit dem Rest der Welt. Sofias Großvater standen die Tränen in den Augen, aber er nahm sich vor, seiner Enkelin ihren Wunsch zu erfüllen. 

Direkt am Sonntagabend, nachdem Sofia von ihren Eltern abgeholt wurde, erzählte er seiner Frau von seinem Plan. Auch ihr liefen dabei Tränen übers Gesicht, aber sie sah ein, dass es das Richtige war. 

Die darauffolgende Woche hämmerten und zimmerten sie an ihrem Projekt herum. Sie bauten mitten auf der Weide ein kleines Häuschen. Es war ein ausgefallenes und raffiniertes Häuschen, auch wenn es sehr klein war und gerade einmal Platz für eine Person hatte. Das würde ausreichen, denn es war ein Häuschen nur für Sofia. 

Mit der Hilfe einiger Nachbarn und Freunden rammte Sofias Großvater vier große, dicke Holzbalken in den Boden. Dann zimmerte er vier weitere Balken an deren obere Enden, damit alles zusammenhielt. An den oberen Balken montierte er Scharniere. An jedes Scharnier wurden Schiebetüren eingehängt, die das kleine Zimmer nachts verschließen konnten, wenn es kalt wurde und tagsüber ausgehängt werden konnten, damit Sofia die Weide sehen und bei ihren Tieren sein konnte. Als Dach wurde ein großes Fenster eingesetzt, damit Sofia immer den Himmel und nachts die Sterne sehen konnte. 

Sie trugen Sofias Bett in das Häuschen auf der Weide und stellten noch einen kleinen Nachttisch dazu, indem Sofia ihre Medikamente und Bücher verstauen konnte. Es war kein besonderes und nur ein kleines Häuschen, doch für Sofia passte es wie die Faust aufs Auge.

Als sie es am darauffolgenden Wochenende sah, war sie sprachlos. Genau so wollte sie den Rest ihres Lebens verbringen, auf der Weide umringt von ihren Tierfreunden. An diesem Wochenende wurde viel gesprochen und geweint, ganz anders als sonst. Doch es zog Sofia nicht runter, es baute sie auf. Sie war froh. dass ihre Großeltern sie verstanden und das sie ihr gestattet ihr Leben so zu leben, wie sie es gerne wollte. Auf der Weide mit den Tieren. Allerdings müssten sie für den Umzug einiges an Überzeugungsarbeit leisten. Denn Sofias Eltern würden gewiss nicht begeistert sein, wenn sie von Sofias neuem Heim erfahren würden. Aber mit der Unterstützung ihrer Großeltern würde Sofia sich durchsetzen. Sie würde nicht mehr in die Stadt zurückkehren, sie würde nicht mehr in die Schule gehen und sie würde nirgends mehr wohnen, wo sie nicht Tag und Nacht den Himmel betrachten konnte. 

Sofias Eltern wussten zwar, dass es Sofia bei ihren Großeltern immer gut gefiel, aber sie wären selbst nie auf die Idee gekommen, Sofia dort wohnen zu lassen. Sie hatten Angst, dass die Tierhaare und der viel Staub und Dreck nicht gut für ihre Tochter waren und die Krankheit dadurch nur schlimmer wurde. Jeden Sonntagabend waren sie beruhigt, wenn ihre Tochter bei ihnen im Bett lag und sie sich um sie kümmern konnten. Sofia wusste das und sie hatte es lang genug mitgemacht, aber jetzt wurde es ihr zu viel. Lieber starb sie im Stall als in einem sterilisierten Raum im Krankenhaus.

Sofias Eltern wollten Sofia bestimmt nichts böses, sie liebten ihre Tochter. Sie wussten wie glücklich die Tiere und das Leben auf dem Land sie machten, denn sie war jeden Freitag so fröhlich, wenn es wieder zu den Großeltern ging. Aber, dass sie nun für immer dort bleiben sollte, war nur schwer für sie zu akzeptieren. An diesem Sonntag flossen erneut viele Tränen. Doch Sofia blieb bei ihren Großeltern. 

Sofia vermisste ihre Eltern. Sie dachte oft an das Gespräch zurück und konnte in den darauffolgenden Nächten kaum schlafen. Wie sie alle geweint hatten. Sofia hatte ihre Eltern beide noch nie weinen sehen und an jenem Sonntagabend schluchzten sie beide vor ihr und wollten sie nicht gehen lassen. Für Sofia fühlte es sich so an, als ob sie genau in dem Moment sterben würde und ihren Eltern dabei zusah, wie sie ihre Tochter verloren. Allen war klar, dass Sofia dem Tod wieder ein Stückchen näher gerückt war. Aber noch war die Zeit nicht gekommen und es war noch nicht der Abschied für immer. Sofias Eltern würden so oft es die Arbeit zuließ auf den Hof hinausfahren. Sie sahen ein, dass es das Beste für ihre Tochter war und wollten sie nicht länger aufhalten, sondern ihr Leben so leben lassen, wie sie es sich wünschte. Auch wenn es nicht so war, wie sie es selbst erhofft hatten. 

Wenn Sofia an ihre Eltern dachte, stiegen ihr jedes Mal Tränen in die Augen und ihr Bauch verkrampfte sich. Aber sie war froh darüber, von nun an auf der Weide leben zu können. Jeden Morgen wachte sie mit einem Lächeln im Gesicht auf. Meistens war es Edu, das kleine dicke gefleckte Pony, das sie weckte. Er blähte seine Nüstern auf und prustete ihr ins Gesicht. Dann wieherte er keck, als würde er über seinen eigenen Scherz lachen. Sofia hätte zwar das ganze Häuschen zu machen und alle Schiebetüren verriegeln können, aber dann wäre sie komplett abgeschnitten gewesen von der Weide und das wollte sie nicht. Außerdem war es Sommer und warm genug, dass sie die Türen offen lassen konnte. So kam auch Edu immer herein und konnte sie wecken. 

Doch nicht nur Edu kam. Noch am Sonntagabend, als Sofia ihr neues Heim bezog, kam jedes Tier auf dem Hof, um sie zu begrüßen. Als erstes war Edu da, denn er war auch am neugierigsten und natürlich Sofias bester Freund. Dich darauf folgten die beiden Ziegen Luna und Solana. Darauf folgte der Hahn Vidal mit seinen Hofdamen Violetta, Vina, Victoria, Veronica, Valeria, Vega und der schönen Valentina. Danach wurde sie von Sergio dem Alpaka-Fohlen begrüßt, zusammen mit seinen Eltern Suanita und Senon. Darauf folgten die Lamas Rita, Roberta und der alte Roque. Und als der ganze Trubel vorbei war, kamen auch noch das greisige Eselpaar Pancho und Pancha angetrottet, um Sofia zu begrüßen. Sofia wusste natürlich, dass sie an diesem Abend viel Besuch erwarten würde, so ist es immer, wenn man ein neues Zuhause bezieht, hatte ihre Großmutter gesagt. Deshalb war sie bestens vorbereitet und hatte für alle Karotten, Hafer und Äpfel zur Hand.

Nie hätte sich Sofia so ein Leben vorgestellt. Sie fühlte sich pudelwohl und es war nie langweilig auf der Weide. Irgendwas gab es immer zu schauen. Vidal der alte Haudegen ritt einen ganzen Tag lang auf Pancho die Weide auf und ab und krähte seinen Hennen Anweisungen zu, die sie, wie es sich für Hofdamen gehörte, einfach ignorierten und ihren täglichen Aufgaben nachgingen, die da waren: Picken, Scharren und im Dreck baden. Der kleine Sergio hielt seine Alpaka-Eltern gehörig auf Trab und stiftete auch unter den Lamas für Unruhe. Pancho und Pancha grasten den ganzen Tag und wenn es ihnen zu viel wurde stellten sie sich ans Ende der Weide unter eine alte Buche und dösten vor sich hin. Die beiden kecken Ziegen Luna und Solana versuchten tagtäglich in die Küche zu kommen. Sie wussten, dass aus der Küche allerhand Leckereien stammten und sie hätte nichts lieber getan, als den ganzen Tag diese Köstlichkeiten zu schnabulieren. Edu war meistens da, wo Sofia war. Er graste Runde für Runde um ihr neues Häuschen herum und wenn er sich mal die Hufe vertreten musste, raste er einmal die Weide hoch und wieder runter. Aber er kehrte immer schnell zu Sofia zurück. „Edu der Beschützer“, hatte ihr Großvater einmal das Pony genannt. Sofia fand den Gedanken schön, dass Edu über sie wachte, einen bessern Wächter hätte man sich gar nicht wünschen können. 

Jeden Morgen brachte Sofias Großmutter das Frühstück. Dann setzte sie sich zu ihre aufs Bett und erzählte ihr eine Geschichte.

So kam Sofias Großmutter auch diesen Morgen, begrüßte Sofia und gab ihr wie jeden Morgen einen dicken Schmatzer auf die Backe. Doch es lag eine Schwerfälligkeit in ihrer Stimme. 

„Abuela?“, fragte Sofia besorgt. „Was ist los?“

Sofias Großmutter lächelte: „Hach Sofia, vor dir kann man auch nichts geheim halten.“

„Nein, ich durchschau’ alles!“, gab Sofia zurück. 

Sofias Großmutter strich ihr sanft über die Haare und setzte sich zu ihr aufs Bett. „Heute werde ich dir eine besondere Geschichte erzählen. Ich hoffe, sie wird dir nicht zu viel Angst machen, aber ich möchte, dass du sie hörst.“

Sofia war gespannt. So geheimnisvoll war ihre Großmutter gewöhnlich nicht. Auch Edu war irritiert. Er schnaubte laut.

„Aber ich erzähle nicht, bevor du nicht anfängst zu essen.“

Sofia blickte ihre Großmutter nochmal tief in die Augen und biss von ihrem Toastbrot ab. „Ersähl“, forderte sie ihre Großmutter mit vollem Mund auf.

Sofias Großmutter lächelte erneut, seufzte dann schwerfällig und fing an zu erzählen: „Heute erzähle ich dir von Drachen.“

„Isch hoff kei’ Ritta, die mag isch nisch.“

„Nein. In der Geschichte kommen keine Ritter vor. Auch keine Schätze oder Schlachten und auch kein Blutvergießen, aber der Tod. Der Tod spielt wie so oft auch hier eine Rolle, Sofia. Aber jetzt höre zu und sprich nicht mit vollem Mund.“ Sofia nickte und lauschte. 

„In sämtlichen Kulturen erzählt man sich schon seit Jahrtausenden die sagenhaftesten Geschichten über Drachen. Mal sind sie böse und blutrünstig, mal weise und gut. In dieser Geschichte erzähle ich dir von Drachen, die weder gut noch böse sind, aber sie sind mächtig. Es ist die Geschichte der Regenbogendrachen.“

Sofia mochte das Wort: Regenbogendrache. Eine Geschichte mit viel Farben konnte eigentlich keine sonderlich traurige Geschichte sein, selbst wenn der Tod vorkommen sollte. 

„Die Regenbogendrachen leben nicht auf der Erde“, fuhr Sofias Großmutter fort, „sie leben im Universum, oder vielmehr sie wandeln im Universum, denn sie leben nicht richtig, sind aber auch nicht tot, sie sind irgendwo dazwischen. Je mehr Regenbogendrachen es im Universum gibt, desto mehr Leben kann entstehen. Kurz nach dem Urknall, in der Ursuppe sollen die ersten Regenbogendrachen entstanden sein. Es waren nicht viele, man sagt es seien drei gewesen. Durch ihr Erscheinen konnte Ordnung entstehen. Es fanden sich einzelne Galaxien zusammen, Sonnensysteme entstanden und Planeten, auf denen das Leben florieren konnte. Wie die Drachen für das Gleichgewicht sorgen ist ein Geheimnis, das nur von einem Drachen zum anderen, Generation für Generation, weitergegeben wird.“

„Kann man die Drachen sehen?“, fragte Sofia. „Ich meine, es gibt mittlerweile so große Weltraumteleskope und Satelliten und allerhand anderen Schnick Schnack. Könnte man damit auch die Drachen sehen?“

„Nur, wenn sie gestorben sind“, antwortete ihre Großmutter darauf. 

„Höh?“, machte Sofia. „Aber sie leben doch gar nicht, wie können sie dann sterben?“

„Die Sonne lebt auch nicht, aber irgendwann wird sie nicht mehr da sein, sie wird erlöschen, explodieren oder im..irgendwie sowas. Es wird sie nicht mehr geben und genauso, wie die Sonne eines Tages vergeht, werden auch die Drachen vergehen.“

„Und was passiert dann mit ihnen?“

„Sie werden zu Staub, zu kleinen Partikeln, zu buntem Nebel. Die Astronomen nennen es glaube ich kosmischer Nebel oder Sternnebel oder irgendwie so, das habe ich einmal in einer Dokumentation im Fernsehen gesehen. Aber tatsächlich sind es die Überreste der Drachen. Alles Große was einmal existiert, löst sich wieder auf in die aller kleinsten Einzelteile aus dem es einmal bestand. So ist es mit Lebewesen, mit Kulturen und so wird es einmal auch mit unserem Sonnensystem geschehen. Das ist der Lauf der Dinge. Selbst die Regenbogendrachen bilden hier keine Ausnahme. Sie können zwar uralt werden, älter als einige Galaxien es sind, aber irgendwann ist es für sie auch zu Ende.“

„Und was ist wenn die Regenbogendrachen nicht mehr da sind? Was passiert dann mit dem Universum?“

„Ich denke nicht, dass das passiert. Dass es irgendwann keine Regenbogendrachen mehr gibt, denn es kommen immer wieder neue nach. Sie entstehen aus langsam vergehendem Leben.“

„Was ist langsam vergehendes Leben? Eine welkende Blume oder sowas?“, fragte Sofia.

Ihre Großmutter seufzte. „Ja, eine welkende Blume ist ein guter Vergleich. Aber es muss langsam passieren, damit der Regenbogendrache genügend Zeit hat, um das Leben in den Sternnebel zubringen. Nur wenn das Leben im Sternnebel stirbt, kann ein neuer Drache entstehen.“ Sie seufzte noch einmal und fügte dann hinzu: „So jetzt muss ich meine Hofdamen füttern gehen.“ Sie gab Sofia noch einen Kuss und ging zum Hühnerstall. 

„Was für eine seltsame Geschichte“, sagte Sofia zu Edu. „Da ist ja gar nicht wirklich was passiert.“ 

Edu wieherte zustimmend. Wollte ihre Großmutter sie vielleicht damit auf den Tod vorbereiten? Wollte sie ihr damit sagen, dass es für sie ein Leben nach dem Tod geben könnte? So ein Mumpitz, dachte sich Sofia. Sie glaubte weder daran in den Himmel oder in die Hölle zu kommen, noch daran wiedergeboren zu werden oder sonst etwas. Sie würde einfach sterben. Bumm, aus, vorbei. Dann war Schicht im Schacht. Zappenduster. Sie glaubte auch nicht an eine Seele oder das irgendein Teil von ihr irgendwo hingehen würde oder sich in irgendwas verwandeln würde, nicht mal in einen Drachen, obwohl das wahrscheinlich schon ziemlich cool wäre. Nein, es würde einfach aus mit ihr sein. „Und das ist auch gut so!“, sagte sie zu Edu. „Sonst würde ich dich die ganze Zeit schrecklich vermissen und müsste dann noch einmal sterben. Außer du würdest mitkommen.“ Das Pony wieherte wieder zustimmend. 

Die Geschichte des Regenbogendrachens ließ Sofia nicht mehr so richtig los. Nicht, dass sie tagsüber darüber nachdachte. Tagsüber war alles so wie immer. Aber sie träumte ständig von den Drachen. Ihre Großmutter hatte in der Geschichte mit keiner Silbe erwähnt, wie die Drachen aussahen, aber in ihren Träumen hatte Sofia ein klares Bild vor Augen. 

Die Drachen waren lang und glichen in ihrer Form großen, dicken Schlangen. Ihre Köpfe sahen aus bei den Drachen aus der chinesischen Kultur, nur hatte sie keine Schnurrbarthaare. Ihre Augen glichen eher denen von Katzen und sie hatten lange geschwungene bunte Federn, die ihnen aus dem Kopf wuchsen und nach hinten glitten. Sofia erinnerten sie an Pfauenfedern. Ansonsten waren die Drachen bunt geschuppt. Jede einzelne Schuppe schien einen Regenbogen zu beinhaltet. Wie einzelne Wassertropfen, in denen sich das Licht spiegelte und jede Farbe des Regenbogens zu sehen war. Einige der Drachen hatten große Flügel aus bunten Federn, andere schwebten einfach so durch die Luft. Manche hatten mehrere Beine, andere gar keine. Sie waren aber alle wunderschön. Von ihnen ging eine unglaubliche Ruhe und Gelassenheit aus. Gleichzeitig hatte Sofia doch etwas Angst vor ihnen, warum konnte sie nicht sagen. Wenn sie aus einem Regenbogendrachen-Traum erwachte, war sie schweißgebadet. Sofia wusste nicht, ob das Schwitzen an ihrer Krankheit lag oder an den Träumen. Doch es beunruhigte sie etwas.  Vielleicht war es auch einfach nur ein neues Symptom, das nun hinzubekommen war. Edu spürte das etwas nicht stimmte und stupste sie jeden Morgen immer wieder mit der Nase an, bis sie aufwachte, sich aufrichtete und ihn an den Ohren kraulte. Erst dann konnte er wieder in Ruhe grasen. 

Sofias Großeltern machten sich mehr und mehr Sorgen um Sofia. Sie aß immer weniger, jeden Morgen war sie pitschnass vom Schweiß und sie war deutlich blasser und konnte kaum noch von ihrem Bett aufstehen. 

„Ich glaube, der Drache kommt bald“, sagte Sofias Großmutter eines Morgens zu ihrem Mann.

„Du und dein Drache. Hast du ihr die Geschichte schon erzählt?“, fragte er zurück.

„Ja…aber ich konnte ihr nicht die ganze Geschichte erzählen, dass sie es sein wird, die der Drache holen wird.“

Sofias Großvater grunzte. „Mhm. Ich glaube, du bildest dir was ein. Diese Legenden von den Regenbogendrachen ist auch nichts anderes als die Geschichte, dass sie in den Himmel oder in die Hölle kommt.“

„Unsere Sofia kommt nicht in die Hölle!“, schrie die Großmutter. 

„Reg dich doch gleich nicht so auf! Ich meinte nur, selbst wenn, das ist doch einerlei. Sofia wird sterben, wie wir alle. Auch wenn viel…viel zu früh. Außerdem ist Sofia die letzte, die an ein Leben nach dem Tod glaubt und ich sehe das auch so. Drachen, Götter, alles Humbug.“

„Pah! Du ignoranter Esel! Du solltest gegenüber der Natur und ihren Geistern mehr Respekt zeigen.“

„Vor der Natur habe ich den allergrößten Respekt, aber nicht vor Geistern und dem ganzen Kram. Wen ich nicht kenn, kann ich nicht respektieren. Vielleicht sind es ja gemeine Geister.“

„Du bist phantasieloser als ein Waschlappen.“

„Gut so“, antwortete der Großvater. „Dann habe ich auch genauso viele Sorgen wie ein Waschlappen.“ Er nahm seiner Frau das Frühstückstablett aus der Hand und ging hinaus. „Heute bring ich Sofia das Frühstück. Nicht, dass du ihr noch erzählst, sie wird von  feuerspeienden Drachen heimgesucht und bekommt noch Albträume, wenn sie die nicht eh schon hat.“

Gut gelaunt und pfeifend kam er bei Sofia an. Ihre Haare und Klamotten waren triefend nass und klebten an ihrem Körper. Er stellte das Tablett ab und legte seine Hand auf ihre Stirn, heiß war sie nicht. 

„Sag mal“, fragte ihr Großvater vorsichtig, „hat dir deine Abuela von den Drachen erzählt?“

„Ja, warum?“

„Naja, du musst nicht alles glauben, was sie dir sagt.“

Sofia lachte. „Haha, ja, das weiß ich. Ich fand die Geschichte auch gar nicht so besonders, aber die Regenbogendrachen tauchen ständig in meinen Träumen auf.“

„Hast du Albträume von ihnen?“

„Nicht so richtig, aber immer wenn sie auftauchen, bekomme ich etwas Angst. Es ist irgendwie beklemmend. Keine Ahnung, warum.“

„Deine Abuela glaubt noch an allerhand Mythen und Sagen. Da gibt es diese alte Legende von den Regenbogendrachen, hat sie dir ja erzählt und sie meint, dass nun ein Drache kommt und dich bald abholen wird.“ Er nahm sich zwei Scheiben Toastbrot, bestrich sie mit Marmelade, reichte eins davon Sofia und biss in das andere hinein. „Isch glaub“, fuhr er fort, „das isch egal, ob ein Drasche kommt oder ein Gott oder sonsch wer, du..“

„Ich werde sterben, so oder so“, vollendete Sofia den Satz. 

Ihr Großvater standen die Tränen in den Augen. Er konnte bloß nicken. Wie gerade heraus seine Enkelin das sagen konnte. 

„Vielleicht brauche ich einfach andere Geschichten, die mich von den Drachen ablenken, dann träum ich vielleicht auch nicht mehr von ihnen. Los, Abuelo, erzähl.“

„Also gut.“

Fast bis zum Mittagessen saß Sofia mit ihrem Großvater zusammen und erzählten sich Geschichten. Die meisten davon erfanden sie selbst. Das letzte Mal hatte Sofia so viel gelacht, als der alte Roque einen komischen Tag hatte und ihrer Großmutter den ganzen Tag hinterher lief und ihr in den Hintern kniff. 

„Was hältst du davon, wenn wir jedes Wochenende ein großes Picknick veranstalten? Ein großes Weidenfest. Wie laden sämtliche Leute aus der Nachbarschaft ein, Schulfreunde von dir, wenn du willst, deine Eltern, die ganze Familie. Dann machen wir bis spät in die Nacht Musik und erzählen lustige Geschichten.“

„Ouh ja! Das wäre großartig. Aber nur, wenn genügend Futter für meine Weidennachbarn da ist! Pancho und Pancha sind so verfressen, nicht, dass sie dann noch auf die Idee kommen die Girlanden aufzuessen.“

Sofia hatte einen wundervollen Tag gehabt. Den restlichen Nachmittag verbrachte sie damit Listen zu erstellen, was sie alles für ihre Picknick-Party brauchten. Am Abend saß sie dann mit Edu zusammen und sie überlegten sich lustige Gartenspiele und wer von der Herde in der Band spielen könnte, Vidal wäre auf jeden Fall der Leadsänger. 

Diese Nacht träumte Sofia nicht von den Regenbogendrachen. Doch sie wachte mitten in der Nacht auf. Edu wieherte laut und jagte mit einem Affenzahn über die Weide. Er stieg mit den Vorderhufen in die Luft und schlug zu allen Seiten aus. Er buckelte und schnaubte, als würde er einen unsichtbaren Reiter abschütteln wollen. 

„Was ist denn mit dem los?“, sagte da auf einmal eine tiefe sanfte Stimme. 

„HUUUUÄÄÄÄÄÄHHH!“ Das war alles was Sofia noch zustande brachte. Sie sprang aus ihrem Bett und rannte, genauso wie Edu. Sie jagte so schnell sie konnte über die Weide und schlug mit ihren Händen nach allen Seiten aus, als wolle sie ein Schwarm Mücken verscheuchen. Dabei fiel ihr nichtmal auf, dass sie seit Jahren nicht mehr so gerannt war, wie jetzt. 

„Heeh!“, rief die Stimme hinter ihr her. „Was soll das denn jetzt?“

Erst als Sofia bei Pancho und Pancha unter der alten Buche angekommen war, blieb sie stehen und stütze sich auf Panchas Rücken ab. Edu kam schnaubend neben ihr zum Stehen. 

„Duuu, haaa, haast das auch ge-gesehen?“, fragte sie Edu keuchend.

Edu wieherte und warf den Kopf in die Luft. 

„Ich glaub…ich, ich werd’ irre.“

Edu schnaubte heftig. 

Während Sofia mit Edu darüber diskutierte, ob sie nun wirklich verrückt werden würde und was sie jetzt tun sollten und ob das ganze vielleicht nicht doch ein böser Traum war, den sie beide da träumten, kringelte sich ein Regenbogendrache unter Sofias Bettdecke ein. Ja! Es war tatsächlich ein Regenbogendrache gekommen. Er war genauso hübsch, wie sich Sofia die Drachen in ihren Träumen ausgemalt hatte. Seine Haut war übersäht mit leuchtenden Schuppen, die im Mondlicht glitzerten und jede Farbe des Regenbogens widerspiegelten. Es war kein besonders großer Drache, er sah eher aus wie eine bunte großgeratene Schlange. Flügel hatte er nicht, dafür 6 Paar Füße oder eher Tatzen. 

„Edu! Uns bleibt nichts anderes übrig. Wir müssen zurück und nachsehen.“

Edu wieherte wieder heftig und schlug nach hinten aus.

„Ja, mir gefällt das doch auch nicht, aber wir können oder vielmehr ich kann nicht die ganze Nacht unter der Buche verbringen.“

Edu schnaubte wieder und stieß mit seinem Kopf Pancho an. 

„Nein, wir schicken nicht Pancho hin. Wir müssen das selbst erledigen.“

Dem Pony gefiel das nicht, aber als Sofia loslief, folgte er ihr. Ganz vorsichtig schlichen sie sich zu Sofias Häuschen zurück. Je näher sie dem Häuschen kamen, desto unruhiger wurde Edu. Sofia war gespannt wie ein Flitzebogen. Doch als sie vor Sofias Bett waren, war da nichts. Edu war zwar immer noch unruhig und tippelte von einer Hufe auf die andere, aber Sofia war entspannter. Sie hatte sich das alles nur eingebildet. Sie hatte so viel von den Drachen geträumt, dass sie sich eingebildet hat, da wäre einer. 

„Paah! Wie dämlich“, sagte Sofia zu Edu und prustete los vor lachen. 

Edu war davon nicht überzeugt. Vorsichtig schlich er sich ans Bett und rannte dann auf einmal wie von der Tarantel gestochen los und petzte über die Weide zurück zu Pancho und Pancha. 

„Ich glaub, dein Pony mag mich nicht.“

Erschrocken drehte sich Sofia im Kreis. Da war niemand. Bildete sie sich jetzt nicht nur Drachen, sondern auch Stimmen ein?

„Du brauchst keine Angst haben.“ Der Drache schlängelte sich unter der Bettdecke hervor. „Ich tu dir nichts.“

Sofia war wie vom Donner gerührt. Edu wieherte wild unter der alten Buche und schabte mit den Hufen. 

„Ich will mich nur mit dir unterhalten“, sagte der Drache. 

Sofia konnte nicht antworten. Sie konnte den Drachen einfach nur anstarren. Vielleicht war das die nächste Stufe ihrer Krankheit oder, oder vielleicht war sie schon tot oder gerade dabei zu sterben?

„Pfff.“ Der Drache atmete schwer aus. „Du bist weder tot noch stirbst du gerade noch ist das Teil deiner Krankheit.“

Sofia überlegte. Der Drache konnte also ihre Gedanken lesen, dann war er ein Hirngespinst und somit träumte sie doch. „Puh!“ Sofia war erleichtert. Immerhin kein neues Symptom. 

„Du bist genauso bekloppt wie das Pony“, sagte der Drache mit sonorer Stimme. 

„Edu ist mein Freund!“, gab Sofia zurück. Wenn dies ein Traum war, konnte sie sich ruhig mit dem Drachen unterhalten. 

„Das wundert mich nicht“, erwiderte der Drache. 

„Und, und was willst du hier?“, fragte Sofia.

„Ich möchte dich kennenlernen“, antwortete der Drache.

„Ah“, antwortete Sofia. Mehr viel ihr dazu nicht ein. Was für ein seltsamer Traum dachte sie sich.

„Du träumst nicht.“

„Mhm. Würde ich an deiner Stelle jetzt auch sagen“, entgegnete Sofia. 

„Dann zwick dich doch mal“, forderte der Drache sie auf.

„Pffff“, machte Sofia und zwickte sich. Nichts passierte. Sofia war davon aber nicht überzeugt. 

„Ob du nun träumst oder nicht spielt aber auch keine Rolle“, sagte der Drache. Die Worte klangen langgezogen, träge und eintönig. 

Sofia mochte die Träume am liebsten, in denen sie sich selbst zu etwas entschließen konnte. Dies war wohl so ein Traum. Ihr war bewusst, dass sie träumte, also konnte sie auch ihre Handlungen beeinflussen. Und sie hatte keine Lust mehr sich mit dem lahmen Drachen zu unterhalten. Es war schließlich ihr Traum, da konnte sie tun und lassen was sie wollte. Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück zu Edu, der immer noch schnaubend und wiehernd unter der Buche stand. Pancho und Pancha standen unbeeindruckt daneben. 

„Schlimmer als eine Prinzessin“, sagte der Drache und kuschelte sich wieder unter die Bettdecke als Sofia davonlief. 

„Edu!“, rief Sofia feierlich. „Du brauchst dich nicht mehr aufzuregen. Wir träumen nur.“

Hach, schwelgte Sofia in ihren Gedanken. Wie schön wäre es eigentlich, wenn man zusammen einen Traum träumen konnte. Das könnte eine lustige Geschichte geben, eine Geschichte indem sie und Edu in einem Traum sind. Vielleicht könnten sie dann auch die Perspektive tauschen, Edu könnte träumen wie es wäre Sofia zu sein und Sofia wie Edu. Hoffentlich erinnere ich mich daran morgen nach dem Aufstehen noch, dachte sich Sofia. Das musste sie ihrem Großvater erzählen. Der fand die Idee bestimmt spitze. 

Sofia fühlte sich erstaunlich fit. „Ein weiteres Zeichen, dass ich nur träume!“, sagte sie zu Edu. „Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass ich mich überhaupt einmal so spitzenklasse gefühlt habe. Quietschfidel ist hier das richtige Wort, Edu. Ja! Ich fühle mich quietschfidel!“ 

Sofia fing an zu kichern und hopste um die Buche herum. Edu und das Eselpaar schauten sie irritiert an. Edu wollte das ganze nicht so recht gefallen, er fühlte sich immer noch unwohl und tippelte nervös von einer Hufe auf die andere. 

„Puuuuh!“, machte Sofia. „Jetzt hab’ ich Seitenstechen.“ Und dann lachte sie los. „Hahaha, Edu!! Hast du das gehört, Seitenstechen! Ich hatte noch nie im Leben Seitenstechen.“ Sofia warf sich auf die Erde und kugelte sich vor lachen. Edu wieherte. Pancho und Pancha standen stoisch unter der Buche und schauten dem bunten Treiben zu. 

Sofia wachte am nächsten Morgen unter der Buche auf. Edu stupste sie immer wieder mit seiner Nase an. 

„Ist ja schon gut, E…Höh? Wo bin ich denn gelandet?“, sagte Sofia. Sie lag genau an dem Platz, wo sie sich gestern im Traum vor Lachen hingeworfen hatte. Pancho und Pancha standen neben ihr im Gras. Sofia setzte sich auf. Jeder einzelne Knochen tat ihr weh. Ihre Lunge schmerzte und ihr Kopf dröhnte. Aus dem Haus kam gerade ihre Großmutter mit dem Frühstück gelaufen. 

„Abuela! Abuela! Hier bin ich!“, rief Sofia und bekam darauf einen Hustenanfall. 

Ihre Großmutter ließ einen spitzen Schrei los. „Sofiiiiaaa! Was machst du denn da? Wie bist du denn da hingekommen? Abuelooo! Abueloo! Komm!“

Ihr Großvater kam aus der Hütte geeilt und beide halfen Sofia wieder zurück zum Bett, begleitet von Edu, der immer wieder schnaubte und wieherte, als wolle er seinen Teil der Geschichte erzählen. 

„Sofia!“, keuchte ihre Großmutter. „Wie bist…du da nur hingekommen?“

„Ähm, ich glaube, ich, ich bin geschlafwandelt“, antwortete Sofia. 

„Was? Aber, aber, dann müssen wir, die Türen.“

„Ich glaube, da kann man nicht viel machen. Hier passiert ihr schon nichts, Abuela. Einsperren lässt sie sich bestimmt nicht.“

„Nein! Bitte. Die Türen sollen nicht zu sein! Sonst kann mich Edu gar nicht wecken.“

Ihr Großvater lachte. „Hach, ist doch nichts passiert. Jeder schlafwandelt noch mal. Wenn das öfter vorkommt, lassen wir uns was einfallen.“

Sofias Großmutter schien davon nicht sonderlich begeistert zu sein, aber sie ließ es erstmal gut sein. 

„Jetzt frühstücken wir alle erstmal!“, sagte ihr Großvater, ließ sich auf Sofias Bett plumpsen und biss in den Toast. 

Sofia fühlte sich wie gerädert. Als ob die ganze Nacht ein Nashorn mit seinem dicken Hintern auf ihrer Brust gesessen und ihre Lunge zu einer Flunder plattgedrückt hätte. Sie bekam nur schwer Luft. Was war passiert? Heute Nacht, ging es ihr doch so gut? Aber halt, das hatte sie nur geträumt, oder? Jetzt wirkte es so real und sie konnte sich so gut daran erinner. Sie hatte bildlich vor Augen wie Edu über die Weide raste und immer wieder den Kopf in den Nacken warf und schnaubte, wie sie über die Weide rannte und dann um die Buche tanzte und wie…ja, wie der Drache, der aussah als ob er hunderte, wenn nicht sogar tausende Regenbögen verschluckt hätte, unter ihrer Bettdecke vorkam. Sofia schlug ihre Bettdecke nach hinten, doch da war nichts und niemand. 

„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte ihre Großmutter.

„Ja“, antwortete Sofia. „Ich hatte nur, nur schlecht geträumt.“

Ihr Großvater blickte mit ernstem Gesichtsausdruck zu seiner Frau. „Vielleicht ruhst du dich einfach noch ein bisschen aus, mhm?“, schlug er Sofia vor. 

Sofia nickte nur und legte sich hundemüde in ihre Kopfkissen. Kaum hatte sie die Augen zu gemacht, war sie auch schon eingeschlafen. Erst am Nachmittag wachte Sofia wieder auf. Dichte Regenwolken bedeckten den Himmel. Ihr Großvater hatte die Türen an ihrem Häuschen verschlossen, bis auf eine. Eine der Türen waren leicht offen und Edu schaute herein. Als er merkte, dass Sofia wach war, schnaubte er. 

„Aiaiai, das war vielleicht eine Nacht und ein Traum.“ Sofia reckte und streckte sich. Sie fühlte sich etwas besser als heute Morgen, war aber immer noch schwach und erschöpft. Und sie hatte einen Bärenhunger. Auf ihrem Nachttischen lag ein großes Tablett mit allerhand Köstlichkeiten: eine selbstgemachte Tortilla ihrer Großmutter, eine Schale frisches Obst, ein Croissant, ein paar Kekse, ein großes Glas Saft und am allerbesten ein großes Stück Schokoladenkuchen. Sofia machte die oberste Schublade ihres Nachttischs auf.

„Dich hat man nicht vergessen, Edu! Natürlich nicht, wie könnte man dich auch vergessen.“ In der obersten Schublade waren ein Schälchen kleingeschnittene Karotten und Äpfel. Edu wieherte freudig. 

Beide aßen den ganzen Nachmittag während sich der Regen über die Weide ergoss und auf Sofias Glasdach platschte. Edu war froh einen Unterschlupf gefunden zu haben. Kurz nachdem es geregnet hatte, gesellten sich auch die Lamas und Alpakas dazu. Das alte Eselpaar stand wie immer unter ihrer Buche und suchten dort nach Schutz. Die beiden Ziegen hatten es ins Haus geschafft und Vidal war mit seinen Hofdamen im Hühnerstall.

Gegen Abend kam Sofias Großvater mit Regenmantel und Gummistiefeln über die Weide gestapft, um nach seiner Enkelin zu sehen. 

„Wie ich sehe, hast du eine ausgezeichnete Gesellschaft, um dich geschart,“ sagte er, als er in das kleine Häuschen trat. „Bei uns sind nur die Ziegen untergekommen, ha. Diese Gauner.“ Ihr Großvater gluckste. „Wie fühlst du dich denn?“

„Besser, ich werde hier auch bestens umsorgt.“

Edu wieherte leise. 

„Ich bin froh, dass du bei uns bist und dass du dich hier wohl fühlst.“

„Ja, ich auch“, antwortete Sofia.

„Hast du denn immer noch diese Albträume?“

„Ach, so wirklich Albträume sind das gar nicht. Ich träum einfach manchmal komisches Zeug.“ Sofia winkte mit der Hand ab. „Aber das geht schon, die Krankheit ist gerade wieder sehr auf und abig.“ 

Ihr Großvater blickte trübe zu Boden. 

„Aber ich habe mir schon Gedanken zur Picknick-Party gemacht!“, wechselte Sofia das Thema. 

Ihr Großvater war dankbar dafür. „Dann schieß mal los.“

„Also, wenn es eine Band gibt, dann wird Vidal der Leadsänger!“

Ihr Großvater brach in schallendes Gelächter aus. Sie unterhielten sich bis spät in die Nacht, was es auf der Party zum Essen und zum Trinken geben sollte, welche Musik lief, was für Gartenspiele sie vorbereiten wollten und und und. Am Ende kam auch noch Sofias Großmutter dazu und sie lachten bis Sofia die Augen zufielen. 

Die ganze restliche Woche träumte Sofia nicht von den Drachen. Und sie war froh darum. Denn so konnte sie sich voll und ganz auf die große Picknick-Party konzentrieren, die am Samstag stattfand. Ihre Eltern kamen schon früh morgens und brachten allerhand Lampions, Lichterketten und bunte Wimpel, die sie an die Bäume und Sofias Häuschen hangen. Sofias Vater hatte sogar eine Piñata gebastelt. Ganz zum Verdruss von Edu hatte sie die Form eines Ponys. 

Sofia fühlte sich an dem Tag fast wie neugeboren. Sie hatte etwas Husten und ab und zu war ihr etwas schwummrig, aber sie schaffte es in die Küche ihrer Großmutter und half fleißig mit das Essen zuzubereiten. Sofia tat es gut mal wieder eine richtige Aufgabe zu haben, wie die Karotten schnippeln oder Paprika würfeln. Sie hatte seit langem mal wieder das Gefühl ein normales Leben zu führen.

Die Party war ein voller Erfolg. Rund um Sofias Häuschen waren Picknickdecken ausgelegt. Sie spielten verschiedene Spiele wie Boule, Crockett oder Dosenwerfen. Die Piñata durfte Sofia erschlagen und zum Glück von Edu waren sie mit Karotten und Apfelstückchen gefüllt. 

Die ganze Familie machte zusammen Musik, ihr Vater spielte Schlagzeug, ihre Oma Gitarre, ihr Papa Bass, Sofia spielte Percussion und ihre Mutter sang bei jedem Lied ein Duett mit Vidal.

Es waren einige alte Freundinnen und Freunde von Sofia gekommen. Obwohl Sofia seit sie nicht mehr in die Schule ging, kein Wort mehr mit ihnen gewechselt hatte, wusste sie es zu schätzen und fand es sehr schön, dass sie da waren. Außerdem waren noch einige Nachbarn und Freunde ihrer Großeltern und Eltern gekommen. Sie feierten und tanzen bis spät in die Nacht. Sofias Eltern und Großeltern sowie Sofia und Edu waren die letzten Gäste die noch auf der Tanzfläche standen, als am Horizont die Sonne wieder aufging. 

„Ich wünschte jeder Tag könnte so sein wie heute“, schwärmte Sofia.

„Oh, meine Liebe, aber dann wäre er nichts mehr besonders“, antwortete ihre Großmutter.

Edu wieherte zustimmend.

Die ganze Familie legte sich auf die Picknickdecken und schlief zusammen ein. Erst am frühen Nachmittag wachte Sofia wieder auf. Sie lag in ihrem Bett und ihre Mutter kam gerade mit dem Frühstück aus der Hütte gelaufen. Die Picknickdecken und die Reste des gestrigen Abends waren bereits aufgeräumt.

Gemeinsam verbrachten sie noch einen wunderschönen Nachmittag. Sie lachten über den gestrigen Abend und hingen die Lampions, Lichterketten und Wimpel in Sofias Häuschen auf, damit Sofia jeder Zeit eine Party schmeißen konnte, wenn sie dazu Lust hatte. Dann verabschiedete sich Sofia von ihren Eltern. Sie hätte sich gewünscht, dass sie einfach dageblieben wären und auch zu ihren Großeltern ziehen würden. 

„Oh, mi vida!“, sagte ihr Vater, „Wir sehen uns in ein paar Tagen schon wieder.“

Ihre Eltern gaben ihr einen Kuss und gingen über die Weide zu ihrem Auto. Sofia winkte ihnen so lange hinterher, bis das Auto nicht mehr zu sehen war. Tränen standen ihr in den Augen. 

Mitten in der Nacht wurde Sofia wach. Durch ihr Fensterdach konnte sie Millionen Sterne funkeln sehen. 

„Schön, nicht wahr“, sagte da eine ruhige tiefe Stimme. Der Drache lag zu ihren Füßen auf dem Bett, eingerollt wie eine Katze. 

„Hah!“, Sofia erschrak. Edu warf wiehernd den Kopf in den Nacken und schüttelte wild seine Mähne. 

„Bitte lauf nicht wieder davon. Ich tue dir nichts, auch wenn dein Pony mich nicht leiden mag.“

Sofia nickte mit dem Kopf. Sie war lang genug von den Drachen davongelaufen. Außerdem war dies wieder nur ein Traum, sie konnte also mal ausprobieren, was passiert, wenn sie im Bett blieb und sich mit dem Drachen unterhielt. 

„Hattest du gestern viel Spaß auf deiner Feier?“, fragte der Drache mit träger Stimme.

„Ähm, ja, Danke“, antwortete sie vorsichtig. 

„Schöööön.“

„Bist du denn…tatsächlich ein Re-Regenbogendrache?“, fragte Sofia.

„Wir haben viele Namen, manche nennen uns Regenbogendrache, andere…“ Der Drache zählte sämtliche Namen auf. Der ist nicht nur langsam, sondern auch unglaublich langweilig, dachte sich Sofia.

„Ich bin nicht langweilig“, erwiderte der Drache.

Mist, Sofia hatte vergessen, dass er Gedanken lesen konnte. 

„Aber, wenn ich dich langweile und du es eilig hast, können wir auch gleich schon los.“

„Wohin?“, fragte Sofia. 

„In den Sternnebel.“ 

Sofia musste aufpassen, dass sie nicht gleich loslachte. War ja klar, dass sie das träumte. Genau so hatte es ihre Oma auch erzählt. 

„Du träumst nicht“, antwortete der Drache auf ihre Gedanken.

„Pfff! Als ob du das weißt! Warum sollte ich nicht träumen?“

„Es ist viel zu konstant für einen Traum. Träume sind hektisch, verwirrend und sprunghaft.“

„Und wie erklärst du dir dann, dass ich top fit bin? Das ist verwirrend. Also, ich bin der Meinung, dass ich träume.“

„Das liegt an mir“, antwortete der Drache. 

„Was liegt an dir?“

„Dass du keine Schmerzen mehr hast.“

„Ahja, war ja klar. Ist das deine Superkraft? Hast du magische Kräfte, die die Schmerzen anderen aufsaugen können oder was?“ 

„Richtig.“

„Häh? Wie richtig?“

„Wenn ich da bin, hast du keine Schmerzen, da ich sie dir abgenommen habe.“

„Das wird ja immer bunter.“

„Tatsächlich, denn mein buntes..“

„Lass das!“, fuhr ihm Sofia dazwischen. „Ich hab darauf keine Lust mehr, auf irgendwelche seltsamen und komischen Erklärungen. Ich bin viel zu müde dafür und zu krank. Außerdem gehe ich nirgends hin, ich bleibe hier und dann sterbe ich.“

Der Drache schüttelte den Kopf. 

„Soll das heißen, dass ich nicht sterbe?“, fragte Sofia mit erhobener Stimme. 

Der Drache hielt kurz inne bevor er antwortete. „Doch.“

„Na also. Da hast du es. Ist völlig schnurzpiepegal, ob wir irgendwohin gehen oder hier bleiben, sterben werde ich sowieso. Und wenn ich die Wahl hab, dann bleibe ich hier, bei Edu.“

Aus sicherem Abstand hörte man Edu zustimmend wiehern. 

Der Drache seufzte. „Du warst zu viel mit dem Pony zusammen, jetzt bist du genauso stur.“

„Du bist unsympathisch.“ Sofia war erstaunt über ihre Ehrlichkeit. Der Drache ließ ein leises Grunzen los. „Und weißt du was ich glaube“, fuhr Sofia fort. „Ich glaube, du bist der Tod. Ich träume und du bist der Tod.“

Der Drache lachte mit tiefer Stimme, Sofia war sich allerdings nicht sicher, ob es nicht doch ein Hustenanfall war. „Nein“, antwortete der Drache. „Ich bin nicht der Tod. Ich bin ein Regenbogendrache, doch der Tod folgt mir auf Schritt und Tritt.“ 

„Dann bist du nicht der Tod, sondern bringst ihn nur.“

„Mhm, nicht ganz.“

„Was soll das denn heißen?“

„Die Lebewesen, denen ich mich zeige, liegen im Sterben und sind kurz davor oder gerade dabei zu sterben. Also, folgt darauf der Tod. Aber ich selbst bin nicht der Tod und ich bringe ihn auch nicht. Es ist mehr ein notwendiger Zufall“, erzählte der Drache mit monotoner Stimme. 

Sofia wusste nicht so recht, was sie damit anfangen sollte. 

„Ich bin gekommen, damit du zur rechten Zeit sterben kannst“, fuhr der Drache fort. 

„Häh? Was?“, entfuhr es Sofia. „Was soll denn das schon wieder heißen? Willst du mir jetzt einen Gefallen tun oder was? Bist du mein Retter in letzter Not?“ Langsam flossen ihr ein paar Tränen in die Augen. 

„Ich bin nicht der sensibelste Dra…“

„Was du nicht sagst! Wäre mir jetzt nicht aufgefallen! Du hast auch nicht mehr alle Tassen im Schrank, was ist denn das für ein Blödsinn hier.“ Sie zwickte sich mehrmals in den Arm, damit sie aufwachen würde. 

„Dein Pony hat immer noch Angst vor mir“, bemerkte der Drache, doch Sofia hörte ihm gar nicht zu. Sie war genervt und irritiert von den seltsamen Dinge, die der Drache von sich gab. Sie verstand absolut kein Wort mehr und hatte keine Lust mehr sich mit dem Drachen auseinanderzusetzen. Was hatte ihre Oma ihr da nur für Flausen in den Kopf gesetzt oder war ihre Krankheit schon soweit fortgeschritten, dass sie wahnsinnig wurde? Verlor sie gerade etwa den Verstand? 

„Du verlierst nicht den Verstand“, sagte der Drache mit sanfter Stimme. „Du hast bloß Angst.“ Mit diesen Worten erhob er sich in die Luft und peitsche wie der Wind über die Weide. 

Edu stieg in die Luft und wieherte. Dann galoppierte er los. Wie ein wahnsinniger raste er über die Erde, der Drache folgte ihm. Er umrundete ihn immer und immer wieder. Flog mal neben, mal über ihm, mal unter ihm hindurch. Es sah aus, als ob ein bunter Lichtschimmer Edu umhüllte. Edu schlug mit seinen Hufen aus, peitsche wild mit dem Schweif und schnappte immer wieder nach dem Drachen, doch der Drache war flinker. Edu hatte die Ohren angelegt und die Augen geweitet. Dann plötzlich, blieb er stehen. Er schnaubte heftig und warf immer wieder den Kopf in den Nacken. Der Drache verlangsamte sein Tempo ebenso und glitt langsam durch die Luft auf Edu zu. Das Pony scharrte unruhig mit den Hufen, doch er wich keinen Schritt zurück. Der Drache blieb mitten in der Luft vor dem Pony zum stehen und summte. Sofia konnte nicht genau hören, ob es eine Melodie war oder ob er etwas zum Pony sagte. Sie hörte nur ein leises tiefes Summen. Es beruhigte sie und es schien auch Edu zu beruhigen. Er hörte auf mit den Hufen zu schaben und lauschte. Die Ohren stellten sich nach vorne auf und er hob neugierig den Kopf. 

Dann, wie von einer Tarantel gestochen, peitsche Edu wieder los. Doch dieses Mal war es kein angsterfülltes Wettrennen, es war spielerisch. Edu und der Drache spielten miteinander. Sofia war verblüfft. 

Nachdem Edu einige Male über die Weide geflitzt war, kam er schnaubend zu Sofia getrabt. Er wieherte leise und ließ sich von ihr den Kopf kraulen. Der Drache kringelte sich wieder auf dem Bett ein, das Wettrennen mit Edu schien ihn nicht angestrengt zu haben. 

„Dein Pony ist sehr liebenswürdig“, sagte der Drache mit sanfter Stimme. 

Sofia nickte bloß. 

„Du hast Glück, weißt du“, fuhr der Drache fort. „Du bist umringt von Lebewesen, die dich lieben und schätzen. Das macht so einen Abschied noch schwerer, das kann ich mir vorstellen.“ Als ob er Sofias Gedanken lesen könnte, fügte er noch hinzu: „Wenn ich dir die Krankheit abnehmen könnte, würde ich es tun. Aber ich kann lediglich für kurze Zeit deinen Schmerz lindern, damit es für dich einfacher wird.“ 

Sofia blickte den Drachen mit glasigen Augen an. 

„Warum bist du hier?“, fragte sie ihn. 

„Um dich in den Sternnebel zu bringen, wie es dir deine Abuela erzählt hat.“ Beide schwiegen sich für eine Zeit an, dann fuhr der Drache fort: „Aber ich sehe ein, dass du nicht mitkommen wirst.“

„Habe ich denn eine Wahl?“, fragte Sofia. 

„Selbstverständlich hast du die“, antwortete der Drache. „Auch, wenn ich dann etwas Probleme bekomme, weil ich einen Nachfolgerdrachen brauche, aber gut.“

„In der Geschichte klang es so endgültig, als ob man sich nicht entscheiden könnte.“

„Es war auch nur eine Geschichte“, antwortete der Drache. „Ein möglicher Handlungsvorgang. Einer von abermillionen Möglichkeiten.“ 

„Und was passiert mit mir, wenn ich nicht mitkomme?“, fragte Sofia. 

„Wenn du mitkommst, bringe ich dich in den Sternnebel und du wirst ein Drache, ein Regenbogendrache. Hüter des Universums. Wenn du nicht mitkommst, bleibst du hier, bis..“

„..bis ich sterbe“, vollendete Sofia den Satz. 

Der Drache nickte. 

„Wenn ich ein Drache werden würde, wüsste ich dann noch von Edu, meinen Eltern und Großeltern? Könnte ich mich an sie erinnern?“

„Du wüsstest, dass du geliebt worden warst, in einem anderen Leben, aber nein. Du würdest dich nicht an sie erinnern.“

Edu wieherte traurig. Sofia schossen die Tränen ins Gesicht als sie Edu anblickte. 

„Ich sehe, du kannst sie nicht verlassen“, sagte der Drache. „Aber früher oder später wirst du sie verlassen müssen und du wirst sie auch vergessen, denn ob du ein Nichts wirst oder ein Drache, ob du zu Erde oder Sternenstaub zerfällst, macht keinen Unterschied.“

Sofia antwortete nicht. Sie strich Edu sanft über die Stirn. 

„Nun gut“, der Drache klang aufgebracht. „Möchtest du noch einmal drüber nachdenken? Noch haben wir etwas Zeit?“ 

Sofia schüttelte den Kopf. Der Drache schien enttäuscht. 

Das Eselpaar Pancho und Pancha hatte dem Gespräch zwischen Sofia und dem Drachen gelauscht. Das Gerücht, dass Esel gemeinhin als störrisch, stur, einfältig oder sogar dumm bezeichnet werden, ist schlicht gelogen und mitnichten traf es auf Pancho und Pancha zu. Sie waren clevere und einfühlsame Wesen, die einem tief ins Herz blicken konnten. Bereits bei der ersten Ankunft hatten sie den Drachen gespürt, sie wussten von seinem Vorhaben, Sofia mitzunehmen. Denn auch sie hatten der Geschichte der Großmutter gelauscht, die der Wind zu ihnen unter die alte Buche trug. Das Eselpaar war alt. Sie spürten, dass das Leben langsam aus ihren Körpern wich. Ihre Muskeln wurden träge und verspannten sich, ihre Knochen porös und ihre Gelenke unbeweglich. Sie wussten auch, dass es mit Sofia langsam ein Ende nahm und dass der Drache gekommen war, um sie zu holen. Doch sie spürten Sofia Abneigung ihre Familie und ihre Freunde zu verlassen. Es war dieses Gefühl, dass Pancha in ihrem Vorhaben bestärkte. Langsam schritt sie in Begleitung von Pancho die Weide entlang. 

Der Drache wusste gar nicht, was er jetzt machen sollte. Musste er überhaupt noch zum Sternnebel fliegen oder konnte er nicht einfach hier sterben, zusammen mit Sofia? Dann würde sie wenigstens keine Schmerzen haben. Er wollte Sofia gerade fragen, ob es ok wäre, da stupste ihn jemand an. Es war Pancha, die alte Eselin. 

Edu wieherte aufgebracht und Sofia schaute das Eselpaar irritiert an. Edu schnaubte und schüttelte seine Mähne. Da fiel es Sofia wie Schuppen von den Augen. Pancha und Pancho wollten mit dem Drachen mitgehen. 

„Könntest du denn auch zwei Lebewesen mitnehmen?“, fragte Sofia den Drachen. 

„Mhm. Das wurde glaube ich noch nie gemacht oder zumindest hat noch keiner daran gedacht, aber warum eigentlich nicht. Wir sind sowieso schon immer viel zu unterbesetzt. Kannst du dir vorstellen, dass es am Anfang gerade mal drei Regenbogendrachen gegeben haben sollte im Universum, pfff.“ Der Drache schnaubte. Dann fuhr er fort: „aber ja, warum eigentlich nicht.“

Der Drache nickte dem Eselpaar zu. Pancha schnaubte zufrieden während Pancho hinter ihr stand und etwas Gras kaute. 

Man merkte, dass Edu mit der Entscheidung alles andere als zufrieden war. Seiner Meinung nach sollte niemand auch nur irgendwohin gehen. Sie waren eine Herde und eine Herde blieb zusammen, komme was da wolle. 

Pancha ließ ein lautes I-AAAAAHHH ertönen. Edu blieb augenblicklich stehen und rührte sich nicht mehr. Dann schnaubte die alte Eselin nochmal laut und Edu ließ den Kopf hängen. 

Sofia konnte es nicht glauben. Pancha und Pancho wollten tatsächlich mit dem Drachen mitgehen. Am liebsten hätte sie sich wie Edu dagegen gewehrt. Sie waren eine Herde, eine Familie, da musste man zusammenbleiben. Doch sie konnte sich nicht sträuben. Sie akzeptierte es, vor allem nach Panchas Zurechtweisung, die sie Edu erteilt hatte. Die Esel mussten ihren eigenen Weg gehen. 

Aus allen Richtungen kam der Rest der Herde angelaufen: die Ziegen Luna und Solana, der Hahn Vidal mit den Hennen Violetta, Vina, Victoria, Veronica, Valeria, Vega und Valentina, das Alpaka-Fohlen Sergio, seine Eltern Suanita und Senon, die Lamas Rita, Robert und der alte Roque. Alle standen sie um Sofias Bett und ließen mit trüben Augen die Köpfe hängen. Mit gesenkten Köpfen und trüben Blicken verabschiedeten sie sich von den Esel. Die Tiere legten die Köpfe aneinander und schnaubten leise. Der Hahn Vidal stieg ein letztes Mal auf Ponchos Rücken und krähte. Auch Edu verabschiedete sich von den beiden Eseln. Sofia ging das eindeutig zu schnell. 

„Halt, wartet doch mal!“, rief sie. Pancho und Pancha gingen zu ihr hinüber und standen so dicht an ihrem Bett, dass sie sie mit den Händen streicheln konnte. Sie blickten sich tief in die Augen und Sofia wusste, dass sie die beiden Esel gehen lassen musste. Auch wenn ihr das nicht gefiel. 

Als sie ihre Hände von den Eseln löste, stieg der Drache in die Luft. Er umkreiste Pancho und Pancha in rasenden Geschwindigkeit. Es sah aus, als ob ein bunter Tornado sie umkreiste. Eingehüllt in einem Tuch aus buntem Licht erhob sich das Eselpaar in die Luft. Beide schnaubten zufrieden. Und dann auf einmal waren sie weg. Als ob sie sich ins Nichts aufgelöst hätten. Sofia hatte gedacht, der Drache würden mit ihnen in den Himmel steigen, aber sie waren einfach, puff, verschwunden. 

Sofia liefen Tränen in die Augen und sie schluchzte in ihre Kissen. Die Tiere standen mit trüben Blicken und gesenkten Köpfen um ihr Bett herum. In dieser Nacht war kaum an Schlaf zu denken. 

Wirre Gedanken rasten Sofia durch den Kopf. Ihr ging das alles viel zu schnell. Die ganze Zeit hatte man von ihrem Tod gesprochen und dass sie bald sterben würde. Und jetzt waren Pancha und Pancho weg. Das konnte nicht wahr sein. Sie musste doch träumen? Ein Drache, der in sämtlichen Regenbogenfarben schillerte, auf die Erde kam, erst sie mitnehmen wollte, dass sie ein Drache werden würde und irgendwelche Dinge im Universum anstelle, sie aber nicht gehen wollte und stattdessen die Esel Pancho und Pancha mit ihm gegangen waren. Pah! Traumzeug! Alles absurd! Das konnte nie und nimmer wahr sein. Das waren Hirngespinste. Dinge, die sich ihr Kopf ausdachte. Ihre eigene Angst vor dem Tod machte sie verrückt, sie würde den Verstand verlieren. Morgen würde sie aufwachen unter die Buche blicken und die beiden Esel dort stehen sehen. 

Doch so kam es nicht. Als die Sonne anfing aufzugehen, merkte Sofia, wie ihre Schmerzen zurückkamen. Ihre Lunge schnürte sich zu. Ihre Glieder fühlten sich taub an. Es war kein Traum gewesen. Pancho und Pancha waren weg. Verschwunden. Ob nun im Universum oder sonst so, sie waren nicht mehr da. Das schlimmste war, dass Sofia wusste, dass es ihr genauso ergingen würde. Ein einfaches Puff würde genügen und sie wäre fort. Sie zweifelte, ob sie nicht doch mit den Drache hätte mitgehen sollen. Es wäre einfacher gewesen, schneller. Dann würde sie jetzt nicht hier so liegen. 

Edu stupste sie mit den Nüstern am Arm an. Zuerst reagierte Sofia nicht, doch Edu blieb hartnäckig. Er stupste sie so lange an bis sie sich aufsetzte. Dann stellte er sich seitlich an die Bettkante und wieherte energisch. Sofia begriff sofort. Ihr ganzer Körper schmerzte, doch sie robbte sich zur Bettkante und hievte sich auf den Rücken ihres Ponys. Auch wenn sich Edu und Sofia schon eine Ewigkeit kannten, saß sie doch noch nie auf seinem Rücken. Sie hielt sich an seiner Mähne fest und Edu stapfte behutsam über die Weide. In der Nähe der alten Buche blieb er stehen. Sofia drehte sich auf den Rücken, ihre Beine baumelten an Edus Flanken hinunter. Die Sonne verbannte die Sterne und färbte den Himmel in ein strahlendes gelb und rot. 

Sofia schloss die Augen und spürte noch Edus Herzschlag und Atmen unter ihr. 

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